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Insights / Presse

Digitalisierung zur Förderung von Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft

19. Juli 2022

Eine Vielzahl von Herausforderungen der heutigen Gesellschaft sind nicht durch individuelle Bemühungen und Maßnahmen einzelner Akteure zu bewältigen. Vielmehr gilt es ganzheitliche Lösungen zu finden, welche die Realität einer global vernetzten Welt berücksichtigen und miteinbeziehen.

Die Idee einer solchen Lösung stellt der von der EU-Kommission ins Leben gerufene Digitale Produktpass dar. Das Konzept des Digitalen Produktpasses wurde 2019 im Rahmen des European Green Deals als ein entscheidendes Instrument für eine nachhaltige und ressourceneffiziente Wirtschaft vorgestellt.

Die durch Globalisierung entstandenen komplexen Wertschöpfungsketten erschweren den Zugriff auf die in vorangegangener Wertschöpfungsschritte verfügbarer Informationen. Das Fehlen dieser ganzheitlichen Informationen bringt die folgenden Konsequenzen.

  • Kundenperspektive: Eine bewusst nachhaltige Kaufentscheidung kann durch einen Endkunden nur bedingt getroffen werden. Relevante Informationen (ganzheitliche ökologische und soziale Kennzahlen mit Bezug auf die gesamte Wertschöpfungskette) werden nicht vertrauenswürdig zur Verfügung gestellt.
  • Unternehmensperspektive: Die Erhaltung bestehender Ressourcen in einer Kreislaufwirtschaft wird durch das Fehlen relevanter Informationen erschwert. Als Beispiel können fehlende Anleitungen zur Durchführung von Reparaturen genannt werden. Ein weiteres Beispiel sind das Nichtvorhandensein von genauen Materialzusammensetzungen, welche zur Optimierung von Recyclingaktivitäten genutzt werden könnten.

Der Digitale Produktpass versucht diese Herausforderungen durch die digitale Vorhaltung relevanter Informationen zu lösen. Entlang der Wertschöpfungskette entstehende Informationen können global bereitgestellt und von anderen Akteuren verwendet werden. Konsumenten können diese bereitgestellten Informationen bei Kaufentscheidungen einbeziehen und für Unternehmen ergeben sich durch den Informationsgewinn neue Möglichkeiten die Zirkularität in der Wertschöpfung zu erhöhen.

Der nachfolgende Text behandelt die folgenden Themen:

  1. Konzept des Digitalen Produktpasses
  2. Standardisierungsinitiativen: Vom Konzept zum Standard
  3. Digitalisierungskompetenz als Herausforderung für Unternehmen

Der Digitaler Produktpass zur Optimierung des Informationsaustauschs entlang der Wertschöpfungskette

Nachfolgende Grafik illustriert die Problematik des konventionellen Informationsflusses entlang der Wertschöpfungskette und wie dieser Informationsfluss durch den Digitalen Produktpass optimiert werden kann. Der Digitale Produktpass ergänzt die physische Produktinstanz um eine virtuelle Produktrepräsentation (Digitaler Zwilling) zur Vorhaltung von Informationen.

Das grundlegende Prinzip des Digitalen Produktpasses wird in nachfolgender Darstellung anhand einer stark vereinfachten Wertschöpfungskette erläutert. In der Realität einer globalisierten Wirtschaft sind Wertschöpfungsketten natürlich ungemein komplexer.

Anhand der folgenden in der Grafik hervorgehobenen Bereiche kann das Konzept des Digitalen Produktpasses beschrieben werden:

Konventionelle Wertschöpfung

Die konventionelle Wertschöpfungskette ist durch den physischen Produktfluss und einen nicht standardisierten Informationsfluss beschrieben. Die zur Herstellung benötigten Materialien und das anschließend aus diesen Materialien zusammengesetzte Endprodukt bewegen sich zuverlässig entlang der Wertschöpfungskette. Dies gilt nicht für die dazugehörigen Informationen. Eine Weitergabe der Informationen zwischen einzelnen Akteuren findet zwar statt, jedoch führt dies nicht zur Weitergabe aller während der Wertschöpfung entstandenen Informationen. Insbesondere nach der Nutzung des Produktes sind viele Informationen verloren und stehen den auf den Nutzer folgenden Akteuren nicht mehr zur Verfügung.

Digitaler Zwilling

Dem Informationsverlust in der konventionellen Wertschöpfung soll das Konzept des Digitalen Zwillings entgegenwirken. Die Grafik illustriert den durch einen Digitalen Zwilling sichergestellten kontinuierlichen Anstieg an Informationen. Auf diese aggregierten Informationen können in der Wertschöpfungskette nachfolgende Akteure zugreifen – auch nach der Nutzung des Produktes bzw. am Ende des Produktlebenszyklus.

Der Digitale Zwilling befindet sich auf einer vertrauenswürdigen Datenablage. Zunächst reicht es diese Datenablage als abstraktes Konzept zu verstehen – im Konkreten könnte eine solche Datenablage zentralisiert durch eine vertrauenswürdige Institution oder auch dezentral durch die involvierten Akteure bereitgestellt werden. Jeder Akteur kann dem Digitalen Zwilling neue Informationen hinzufügen oder bereits bereitgestellte Informationen abrufen.

Die Verknüpfung der physischen Produktinstanz und dem virtuellen Digitalen Zwilling erfolgt durch die Zuweisung einer eindeutigen Kennung. Diese Kennung ist auf der physischen Produktinstanz vorzufinden (z.B. in Form einer Nummer, Strichcode oder QR-Code) und dient als eindeutiger Identifikator beim Austausch von Informationen mit der vertrauenswürdigen Datenablage.

Produkttransparenz und erhöhte Zirkularität

Der geschaffene Digitale Zwilling und die dort abgelegten Informationen über eine Produktinstanz können nun genutzt werden, um den Akteuren entlang der Wertschöpfungskette zusätzliche Informationen zur Verfügung zu stellen. Zum Zeitpunkt der Produkterwerbs stehen dem potenziellen Nutzer (Kunde) nun ganzheitlichere Informationen zur Verfügung, welche in die Entscheidung eines bewussten und nachhaltigen Kaufs einbezogen werden können. Andere Akteure (Unternehmen) können auf Basis der neuen Informationen anhand optimierter Prozesse und Angebote die Zirkularität innerhalb der Wertschöpfung erhöhen. In der Grafik exemplarisch angedeutet findet sich das Rückführen von Materialien durch optimierte Recycling-Aktivitäten auf Basis besseren Wissens über Materialzusammensetzungen. Ein weiteres Beispiel ist die Verlängerung der Nutzungsdauer eines Produktes durch Förderung von Reparatur-Aktivitäten anhand zur Verfügung gestellten Reparaturhinweisen und -anleitungen.

Der Digitale Produktpass als vertrauenswürdige Ablage relevanter Informationen einer Produktinstanz

Die Einordnung des Digitalen Zwillings in den Prozess der Wertschöpfung wurde in vorangegangenem Abschnitt vorgenommen. Nachfolgend wird zur weiteren Verdeutlichung die Sicht auf die in einem Digitalen Zwilling vorgehaltenen Daten eingenommen.

Dargestellt ist die Umschließung bzw. Verknüpfung der Daten des Digitalen Zwillings mit der physischen Produktinstanz. Es ist anzumerken, dass es sich bei den dargestellten Daten um Beispiele handelt – je nach Produkt können unterschiedliche Daten eine Rolle spielen.

Außerdem ist die Dateninteraktion der unterschiedlichen Akteure der Wertschöpfungskette am unteren Rand der Grafik angedeutet.

Betrachten wir den Digitalen Zwilling selbst, so sehen wir folgende Kategorisierung der Daten.

  • Geburtsdaten: Daten, die bei Erschaffung der Produktinstanz definiert werden und sich über den Lebenszyklus des Produkts nicht verändern (statische Daten).
  • Lebensdaten: Daten, die während des Produktlebenszyklus ergänzt werden und sich während diesem auch verändern können (dynamische Daten).
  • Metadaten: Übergeordnete Daten, die anhand bereits gespeicherter Daten abgeleitet werden können oder von Akteuren der Wertschöpfungskette und autorisierten Institutionen (z.B. Zertifizierungsstellen) ergänzt werden.

Durch das Konzept der vertrauenswürdige Datenablage ist sicherzustellen, dass die gespeicherten Daten und die daraus resultierenden Informationen für Datenkonsumenten korrekt und nachträglich nicht manipulierbar sind.

Umsetzung des Digitalen Produktpasses: Verschiedene Initiativen zur Etablierung von Standards

Der Weg vom theoretischen Konzept des Digitalen Produktpasses zu Standardisierungsbemühungen und konkreten Umsetzungen wird von unterschiedlichen Initiativen vorangetrieben. Einzelne Initiativen konzentrieren sich zumeist auf konkrete Produktgruppen, Branchen oder Anwendungsfälle. So können die dort individuell vorzufindenden individuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen berücksichtigt werden und Ergebnisse in der Praxis geschaffen werden.

Dieses Vorgehen erlaubt – neben dem Hervorbringen konkreter Ergebnisse – die Möglichkeit in abgestecktem Rahmen zu wachsen und im Austausch mit anderen Initiativen von Erfahrungen und Lösungen zu lernen.

Nachfolgende Grafik illustriert exemplarisch das parallele Existieren zweier Standardisierungsinitiativen.

Innerhalb der Initiativen befinden sich unterschiedliche Unternehmen (dargestellt durch blaue Gebäude). Von diesen Unternehmen innerhalb des Bezugsrahmens einer Standardisierungsinitiative haben einige bereits den Standard implementiert (dargestellt durch ein grünes Klemmbrett) wohingegen andere Unternehmen dieser Implementierung noch nicht gefolgt sind.

Zudem ist in der Grafik angedeutet wie Unternehmen, die den Standard implementieren, auf eine gemeinsame vertrauenswürdige Datenablage (dargestellt durch blauen Zylinder) zurückgreifen.

Auch wenn Standardisierungsinitiativen an unabhängigen Lösungen arbeiten, so ist die Schnittmenge der zu definierenden und umzusetzenden technischen Aspekte groß. Folgende technischen Aspekten stellen eine Auswahl dar, welche im Rahmen der Initiativen zu behandeln sind.

  • Definition von Daten, Datenformaten und Schnittstellen: Festlegung relevanter Daten und Datenstrukturen in welchen die Daten zwischen den einzelnen Akteuren ausgetauscht werden können.
  • Bereitstellung einer vertrauenswürdigen Datenablage: Erarbeitung und Umsetzung eines konkreten Konzepts für die vertrauenswürdigen Datenablage unter Berücksichtigung relevanter Anforderungen. Die Datenvorhaltung muss für den gesamten Lebenszyklus eines Produktes sichergestellt sein. Die Speicherung der Daten muss vertrauenswürdig sein: Durchgeführt durch eine zentrale vertrauenswürdige Institution, dezentral durch die datenbereitstellenden Akteure oder dezentral durch einen vertrauenswürdigen Datenspeicher (Blockchain).
  • Sicherstellung des Schutzes und der Vertraulichkeit von Daten: Die Vertraulichkeit der auszutauschenden Daten muss sichergestellt werden. Im Einzelnen muss festgelegt werden, ob gewisse Daten nur bestimmten Akteuren bereitgestellt werden sollen. Hierfür müssen – unter Berücksichtigung der konkreten Implementierung der vertrauenswürdigen Datenablage – entsprechende technische Lösungen umgesetzt werden.

Die individuellen Anforderungen der einzelnen Initiativen bestimmen die konkrete Implementierung der technischen Lösung. Initiativen können auch bei der technischen Umsetzung voneinander lernen und das Herausbilden gewisser Erfolgsrezepte ist zu erwarten.

Die Implementierung eines Standards konfrontiert Unternehmen mit unterschiedlichen technischen Herausforderungen

Die tatsächliche Umsetzung des Standards erfordert Digitalisierungskompetenzen bei den implementierenden Unternehmen: Der Umgang mit existierenden Daten und die Transformation in das durch den Standard definierte Format muss erfolgen. Diese Daten müssen über Schnittstellen bereitgestellt und technische Integrationen zum Abrufen der von anderen Akteuren bereitgestellte Daten müssen etabliert werden. Abhängig vom Konzept der durch den Standard festgelegten vertrauenswürdigen Datenablage stellt die Persistenz und das Garantieren der Sicherheit (Cyber Security) weitere wichtige Fähigkeiten dar.

Zusätzlich werden Kompetenzen im Bereich der Softwareentwicklung benötigt, um auf den durch den Standard neu verfügbaren Daten neuartige Mehrwertdienste zu entwickeln. Unter Mehrwertdienste wird hier die konkrete Implementierung der zu Beginn des Artikels als Beispiel genannten Lösungen zur Förderung von Nachhaltigkeit (z.B. Bereitstellung von ganzheitlichen ökologischen und sozialen Kennzahlen für den Endkunden) und Erhöhung der Zirkularität in der Wirtschaft (z.B. Optimiertes Recycling durch Einbeziehung zusätzlicher Daten über Materialzusammensetzungen).

Als Grundlage für zukünftige Optimierungen und Ausrichtung an neuen Anforderungen sollten die durch die genannten Kompetenzen geschaffenen technischen Lösungen im Rahmen einer strategischen IT-Architektur erfolgen.

Die nachfolgende Grafik visualisiert das grundsätzliche Prinzip und Aufgaben, die bei der Entwicklung von Mehrwertdiensten im Kontext des Digitalen Produktepasses auf ein konkretes Unternehmen zukommen.

 

Als Grundlage für die Entwicklung eines neuen Dienstes muss eine Integration in die Datenlandschaft des entsprechenden Standards erfolgen. Diese Integration beinhaltet zwei Perspektiven: Die Nutzung der Daten anderer Akteure und die Bereitstellung der eigenen Daten.

  1. Nutzen von Daten: Zur Nutzung von Daten anderer Akteure muss die technische Integration zu Schnittstellen der vertrauenswürdigen Datenablage implementiert werden (siehe in Grafik: Client).
  2. Bereitstellen von Daten: Zur Bereitstellung von Daten für andere Akteure müssen die im Unternehmen vorgehaltenen Daten (siehe in Grafik: Interne Datenspeicher) in das für das Standard benötigte Format transformiert werden (siehe in Grafik: ETL). Zusätzlich müssen (je nach technischer Umsetzung der vertrauenswürdigen Datenablage) Schnittstellen zur Verfügung gestellt oder die Daten in einem externen Speicher abgelegt werden.

Aufbauend auf die beschriebene Datenintegration können von dem Unternehmen relevante Mehrwertdienste (siehe in Grafik: Mehrwert / Optimierungen) umgesetzt werden.

Digitaler Produktpass: Von Standardisierungsinitiativen und den benötigten Digitalisierungskompetenzen in Unternehmen zur Förderung von Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft

In vorangegangenem Text wurde nach der Vorstellung des Konzepts des Digitalen Produktpasses ein Einblick in den Ansatz der verteilten Standardisierungsinitiativen gegeben. Anschließend wurden die technischen Aufgaben und Herausforderungen für die den Standard implementierenden Unternehmen auf abstrakter Ebene beschrieben. Neben der eigentlichen Herausforderung sinnvolle, auf bestimmte Produktgruppen und Branchen zugeschnittene Standards zu definieren, sind Digitalisierungskompetenzen in den implementierenden Unternehmen gefordert.

Es wird spannend zu beobachten sein welche Standards und technischen Konzepte sich im Rahmen des Digitalen Produktpasses etablierenden werden und wie die technischen Aufwände in den Unternehmen gemeistert werden können.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Beschaffung aktuell. Wir freuen uns über Ihr Feedback und das Teilen des Artikels.

Originalbeitrag bei Beschaffung aktuell